Reportagen

Kunst statt Köttel: Odyssee im Emscherraum

Gegenständliche und konzeptuelle Projekte internationaler Künstler und Kooperationen rücken den schmalen Streifen Land zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal als größtes Kunstprojekt im Kulturhauptstadtjahr ins Rampenlicht. Auf dem Stahlross (be)suchte Isabelle Reiff die Vorboten eines neuen Flusses.

Emscherkunst, wo bist du? Diese Frage kann einen stark beschäftigen, wenn man ohne Kartenmaterial los zieht, 40 Kilometer Kanalstrecke nach auffälligen Installationen abzuradeln – nicht ganz doof mit dem Plan, am östlichsten Ende der Insel einzusteigen, genau da, wo Bretterwände und Bauzäune den Blick verstellen und man nach Erklimmen einer Aussichtsplattform von einem gelben Fernglas an der Nase herumgeführt wird.
Im Gewerbegebiet von Castrop-Rauxel unterquert die Emscher den Rhein-Herne-Kanal, und eine riesige Baustelle zeugt vom Umbau dieser Kreuzung ohne Wegweiser. Sportliche Senioren, die einem auf Tourenbikes entgegenkommen, haben den Bretterturm gesehen. „Das soll Kunst sein?“ Sie zeigen in die Richtung, die es einzuschlagen gilt. Und das sich drehende Fernglas? „Ja das Fernglas ist kaputt.“ Falsch: Das Fernglas ist ebenso Kunst, aber das wissen viele noch nicht.
„Es geht uns nicht um gefällige Kunst. Wir wollen immer auch ein klein wenig erschüttern.“ Kirill Ivlev ist nicht der Mann, der die verrückten Ferngläser oder den Turm an der Emscher aufgestellt hat. Stattdessen hat er eine aufblasbare Kirchenruine geschaffen, so groß, dass man darin Gottesdienste abhalten kann. Sie steht „auf einer Art Schweizer Boden“, nämlich exakt zwischen Herne und Recklinghausen am Stadthafen. Die feierliche Einweihung begleitet Laura Schubert an der Ätherwellengeige, einem elektronischen Instrument, das berührungslos gespielt wird und sehr seltsame außerirdisch anmutende Klänge abgibt.
Ivlev tauft die Kirche auf den Namen „Epiram Tepeti“, ein von Peter Eisenkoko erfundenes Wort, er selbst dafür bekannt, in seinem zweiten Semester an der Kunstakademie Münster den gesamten Faust durch Verdrehung von Buchstaben neu geschrieben zu haben. Das Publikum wartet geheimnisumwittert. Die Sekt-Taufe schlägt fehl: Wieder und wieder schlägt die Flasche gegen die Kirchenwand, doch die ist ja aus Luft in Plastik … Das Beste kommt jetzt: Auftritt Pawel Podolak in einem selbst kreierten Gefieder aus Hunderten von Ausschnitten seiner computergenerierten Gemälde. Mit ihm gerät die Brotschleudermaschine in Gang: „Hunderte Scheiben Toastbrot wurden auf das Publikum geworfen“, schreibt später unfroh die Recklinghäuser Zeitung. Von der Vogel-Gottheit kommt nun die Aufforderung, ihr daraus ein Podest zu bauen. Die Erwachsenen sind empört. „Aber Papa, das ist doch Kunst!“ Begeistert türmen die Kinder Toastscheibe auf Toastscheibe.
Natürlich hält das Podest nicht, dafür ist hinten ein Ausgrabungsfeld zum Selberbuddeln. Und neun gelbe Bauwagen stehen reihum, Namensgeber für „das goldene Dorf“ (das nun auch eine Kirche hat), auch wenn der Anstrich leider ins Ockergelb trocknete. Doch das Innere ist entscheidend: Studenten und Ehemalige haben in jedem Wagen Kunst installiert, nicht nur zur Besichtigung, auch zur Übernachtung – kostenlos und inklusive Kaffee. Toiletten und Waschräume befinden sich in einem extra Wagon. Wer will, kann auch in den Bäumen schlafen, den immerwährenden Vollmond bestaunen oder über sieben Brücken hinweg die wechselnden Ausstellungen in den beiden Trailern am Hafenrand besuchen.
Es gibt viel zu sehen, und Vieles ist von der Umgebungsgeschichte inspiriert, davon zeugen die wie Weintrauben vom Strommast herabhängenden Grubenhelme genauso wie der Titel der Performance am 3.7. um 19 Uhr: „Abfluss des Spottes“.  Steht doch die ganze Kunst hier im Zeichen der Emscher, und die ist nun mal seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein „Köttelbecke“, so die spöttische Bezeichnung für einen Kot-Bach – die offene Ableitung von Fäkalien in natürlichen Gewässern.
Über die „Lebensgefahr!“-Schilder, die es so nur an der Emscher gibt, mache ich mich anfangs auf meiner Irrfahrt noch lustig: Mit vor Schreck aufgerissenem Mund stürzt die Warnfigur hinterrücks in den Bach, der selbst kaum knietief ist. Doch das Schild übertreibt nicht. „Der Autor von ‚Deutschland zu Fuß’ ist in der Emscher ertrunken“, berichtet Biologielehrer Rolf Swoboda, den ich orientierungsuchend vor dem Faulturm in Herne kennen lerne. „Er ist die Schräge von 45 Grad nicht mehr hochgekommen, weil sie vor lauter Pilzen und Schlamm völlig glitschig ist. Noch dazu hatte er ziemlich viel Wasser geschluckt …“
Dass das keine Trinkwasserqualität hat, sieht man mit bloßem Auge – und riecht es auch. Doch nicht mehr lange: Swoboda gibt den Tipp, sich die Bezeichnung „Emscher-Forelle“ patentieren zu lassen. Spätestens 2020 könnte damit die Kasse klingeln, weil der Bach dann so sauber sei, dass eine Forelle darin leben kann. Bis dahin soll die Emscher in ihren ursprünglichen stark mäandernden Verlauf überführt werden und das Abwasser in einer unterirdischen Röhre ablaufen.
Neue Faultürme hat sie schon. Dieser hier, vor dem ich stehe, ist lange schon bakterienentleert. Stattdessen finden sich an seiner Außenseite historische Szenen von Bergarbeiterstreiks im Ruhrgebiet. Silke Wagner versteht ihr arbeitsintensives Mosaik als „Denkmal für die Geschichte des Bergbaus“, weil deren „Arbeiterbewegung für die Demokratisierung Deutschlands im frühen 20. Jahrhundert entscheidend“ war.
Auch das Innere des zylinderförmigen Betonkubus setzt sich mit der Vergangenheit des Bergbaus auseinander: Auf vier halbtransparenten Leinwänden spielen sich verschiedene Szenen einer Familie im Ruhrgebiet ab. Grubenschächte, Kokereiruinen, eine Halde und die heimische Küche sind der Hintergrund für den Film des Duos M+M „Schlagende Wetter“, ein Begriff aus der Bergmannssprache und auch eine Metapher für zwischenmenschliche Spannungen.
„Glückauf“, heißt es jetzt für mich, denn der nette Herr Swoboda wird von Ute Jäger begleitet, und die arbeitet bei der Emschergenossenschaft. Ich erfahre nicht nur, wie Faulgase Energie erzeugen oder dass seit Jahren Grundstücke links und rechts des Baches erworben werden, um Platz für Kurven zu gewinnen, sondern auch, wo ich eine detaillierte Karte erhalte: um die Ecke im Museum Strom und Leben.
Endlich orientiert weiß ich, was ich noch vor mir habe: eine Skulptur im „Herner Meer“, die aussieht wie krumm gestapelte lackierte Blumentöpfe und aus allen Löchern pfeift, dazu Computerstimmen aus den Büschen, die vom „Ende biologischen Lebens“ im Jahr 7000 berichten. Bei schönem Wetter tummeln sich hier Jugendcliquen und Familien. Niemand beachtet die Naturschutz-Schilder. Überall liegen weggeworfene leere Plastikhüllen, Taschentücher und Kaputtes. Auf dem Hügel der Mülldeponie steht reflektierend „Satisfy me“.
Gegenüber der Mole findet man mitten im inoffiziellen Industriekultur-Strandbad einen Gastank, der sich innen als kuriose Vogelbeobachtungsstation entpuppt: ein alter Sekretär voll mit antiquarischen Büchern zum Thema Ornithologie, zerschlissene Ledersessel, Pfeiffen, Spazierstöcke, Gummistiefel … Bis auf zwei neue Teleskope, durch die man bis ans andere Ufer sieht, hat der sammelleidenschaftliche Mark Dion mit Leihgaben wirklicher Vogelforscher eine Bühne wie für Miss Marple geschaffen.
Das nächste gelbe Fernglas – sieben habe ich verpasst – wurde ramponiert – wie Vieles leider. Am Besucherpavillon im Nordsternpark sah man sich durch Jeppe Heins gelben Feldstecher in Ego-Shooter-Perspektive selbst von hinten. Den Vandalisten muss das so schockiert haben, dass er kurzum die Kamera im Rücken demontierte.
In Signalfarbe Orange leitet mich Jochen Beier zu Emily. Sie lebt bis Ende August im Kunstwerk „Walking House“ von N55. Das Sinnbild einer mobilen Gesellschaft schafft 200 Meter pro Stunde. Solarzellen auf dem Dach versorgen den Bordcomputer und die Beine des Hauses mit Energie. Es gibt einen kleinen Ofen, eine Art Hochbett, Komposttoilette, einen Regenwassersammler, unter dem man draußen duschen kann.
Emilys Großvater war Kohlearbeiter in Pittsburgh. Sie spürt darum „an affinity to the Ruhr“. Und Leben mit wenig Komfort macht Emily nichts aus: Seit Jahren wohnt sie immer übergangsweise in leer stehenden Häusern und von dem, was Supermärkte täglich wegwerfen, zuletzt in New York. Sie tut es aus Überzeugung („I don’t want to reproduce the system.“) und dokumentiert diese Lebenskunst in Text und Bild.
Auch in der Skulptur von Observatorium, Künstlergruppe aus Rotterdam, kann übernachtet werden. Lange „Warten auf den Fluss“ wollen hier so viele Besucher, dass die Betten der bewohnbaren Brücke bis zum Ende der Emscherkunst am 5. September ausgebucht sind. Ihr zickzackförmiger Verlauf, der sich behutsam in die vorgefundene Landschaft einfügt, bietet jedoch auch für Tagesgäste überall Platz zum Sitzen, in der Sonne liegen und aus verschiedenen Blickwinkeln mit Natur und anderen in Kontakt kommen. Die aus stabilen Gerüstplanken aus dem Rotterdamer Hafen erstellte Architektur erhebt sich 1 Meter 20 über dem bald wieder in großen Kurven drunter her laufenden Fluss. Bis es soweit ist, kann die Zwischenzeit zwischen alter und neuer Emscher gemeinsam wartend und betrachtend überbrückt werden. So entsteht „Kunst des öffentlichen Raums anstelle von bloß im öffentlichen Raum“ erklärt mir Andre Dekker sein konzeptionelles Ziel, die Bedeutung der Umgebung fühlbar zu machen.
Vorbei an einem vergoldeten Turm außer Sichtweite des neuen Obelisken erreiche ich eine andere Brückenkunst: „Between the waters“ verbindet das Pipiwasser der Emscher mit dem Badewasser des Rhein-Herne-Kanals. Was hoch über dem Köttelbach in die Toilette läuft, wird in einer Pflanzenkläranlage über Monate hinweg gereinigt. Heraus kommt trinkbares Wasser am Ufer des Kanals, eine Demonstration der Fähigkeit der Natur, sich selbst zu erneuern.
Ich traue mich nicht, hier meine Blase zu entleeren, gar zu sehr schaukelt die Toilette im Sommersturm. Das, Stephan Hubers Kasperltheater und den BernePark hebe ich mir für morgen auf. Der singende Berg an der Schleuse Gelsenkirchen und Tobias Rehbergers Spiralbrücke in Oberhausen werden im August bzw. Herbst erst fertig. An einem Tag schafft man das Ganze sowieso nicht und erst recht nicht ohne die „Rad- und Wanderkarte Emscher Insel-Tour“.

[HEINZ-Magazin, Juli 2010]