Moderne Albträume
Auf dem Rückflug aus der Dom Rep hatte K. einen Albtraum: Erst ähnelte die Szenerie noch seiner Muckibude und er wähnte sich fleißig auf dem Crosstrainer die breiten grauen Pedale treten. Bis er plötzlich bemerkte, dass rings um ihn gar keine Geräte waren und auch keine Leute, dass er in Wirklichkeit auf zwei gigantischen Tasten herumtrampelte, die riesengroß mit „Entf“ und „Einfg“ beschriftet waren. Als K. entsetzt hinaufsah, erkannte er, dass der Monitor über ihm nicht etwa die aktuellen Börsennachrichten auf Fox News brachte, sondern das Fenster seines Mail-Clients zeigte. Fassungslos starrte er auf die unglaubliche Zahl in Klammern neben „Posteingang“: 4.815.162.342 … Und sie wuchs im Minutentakt! Panik durchfuhr K.: Was konnte passiert sein, dass er so viele Mails nicht beantwortet hatte?! Die fettschwarzen Betreffzeilen kündeten von Reichtum, Potenz und Erotik, lieferten Rechnungen von Quelle, Ebay und 1&1. Mit beiden Füßen sprang K. auf die „Entf“-Taste, doch sie gab plötzlich kaum noch nach. Unendlich lange schien es zu dauern, bis die oberste E-Mail, deren Penisverlängerungsversprechen er gerne geglaubt hätte, im Nirwana verschwand. Ganz unten sah er den Eintrag „Re: heute Abend“ auftauchen. Lydia! Sie meldete sich doch noch bei ihm! K. hopste auf und nieder, aber die Taste knirschte nur noch. Zigarettenasche und Brotkrumen stäubten unter ihr hervor. Verzweifelt drehte sich K. in die Gegenrichtung und sah fünf Tasten entfernt das Pfeilsymbol leuchten. Erleichtert setzte er zum Sprung an, um auf anderem Wege die E-Mail seiner Herzensdame zu öffnen, aber wie es in Albträumen nun mal so ist, hatte er plötzlich keine Gewalt mehr über seine Muskeln und plumpste bäuchlings auf die riesige Eingabetaste, die zu wackeln begann wie ein Floß bei Sturm auf See. Fataler Fehler! Irgendetwas war durch seinen Bauchplatscher in Aktion getreten, etwas Schreckliches, Grauenvolles. Wildes Wiehern und Schnauben kündeten davon. Blitzschnell drehte K. sich um und konnte sich gerade noch in der Fuge zum „#“ davor retten, von den massiven Hufen eines trojanischen Pferdes zermalmt zu werden. Mähneschleudernd stellte das Riesenross sich auf die Hinterbeine, zerschmetterte vorne die Pfeil-nach-unten-Taste und versenkte hinten ein dampfendes Etwas in der Rille zur Pfeil-nach-oben-Taste. Doch damit nicht genug. Als nächstes wurde ein ungeheures Netz auf ihn herabgeworfen mit Schlingen so klebrig wie das Spinngarn von Spiderman. Mit letzter Kraft wälzte sich K. auf den Rücken und sah schreckensweiten Auges unbekannte Flugobjekte aus dem fluoreszierenden Screen dringen, deren Gestalt an kleine Massagebälle erinnerte oder – und das war sicherlich zutreffender – an digital designte Virensymbole. Weit dahinter erkannte K. noch weitere E-Mails seiner Liebsten, alle mit einem Ausrufezeichen versehen. Ganz entfernt leuchtete „Esc“. K. machte einen letzten Versuch, sich zu erheben. Doch in diesem Augenblick erhielt er eine SMS, eine zweite, eine dritte, eine vierte … Mühsam zog der umgarnte K. das Handy aus seiner Brusttasche. Die erste Kurzmitteilung war ein Sonderangebot des Providers, die zweite schlug ein Wettspiel vor, die dritte lud ihn zum kostenlosen Probetraining ein und die vierte: „Ich mach Schluss“, schrieb Lydia. Und als ob das noch nicht genug war, erschallte jetzt die Stimme seines Vorgesetzten aus dem Off: „K., mir reicht’s! Deine Produktivität lässt zu wünschen übrig! Du bist fristlos entlassen!“
Als K. am nächsten Morgen ins Büro kam, den PC startete und seine E-Mails abrief, war er richtig erleichtert, dass er in seiner Urlaubswoche nur 34 Angebote zu Penis- und Ausdauerverlängerung erhalten hatte, nur zwölf, die versprachen, sein Gewicht zu reduzieren, bloß sieben gefälschte Rechnungen und gerade mal fünf E-Mails, die Viren enthielten, aber längst vom Schutzprogramm unschädlich gemacht worden waren. Lydias Botschaft war im Spam-Ordner gelandet, und da gehörte sie auch hin.
[Reinschrift 2, 2007, Lucien Deprijck (Hrsg.), van Aaken Verlag, Köln]
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