Künstlerporträt

Transparenz, Transzendenz, Transformation

Die Arbeiten von Gabriele Schmitz-Reum sind geprägt vom Ausloten der Grenzen verschiedener Materialitäten. Auf den ersten Blick oft gar nicht erkennbar sind ihre Malerei, genauso wie ihre Zeichnungen und Objekte von vielen aufeinanderhaftenden Stoffen, Substanzen, Teilchen und Farbschichten geprägt und durchwirkt. Sie überlagern und überkreuzen, durchdringen und verändern sich gegenseitig, teilweise bis zur völligen Verschmelzung.

Mit diesem Fokus ist die Materialauswahl der Künstlerin von der Suche nach Transparenz bestimmt: Alles, was durchsichtig ist oder durchscheinend gemacht werden kann, ist in ihr Werk eingeflossen. Da finden sich Glas- und Geleeobjekte genauso wie bearbeitete Häute, Papier, Seiden, fließendes Wasser, Kautschuk, Wachs, Farbverdünnungen, Tee, Tusche …

Für ihre Ölbilder hat Gabriele Schmitz-Reum eine eigene Technik des schichtweisen, durchscheinenden Auftragens entwickelt, die sie in ihrer Malschule an viele Interessierte weitergibt. So entdeckt man in der Serie „Schattenkörper“ bei näherem Hinsehen, dass die Verdunklungen in den Bildern nicht etwa aus dunklen Pigmenten bestehen, sondern nacheinander aufgetragenen vielfarbigen Schichten. Sie sind Ergebnis der von Schmitz-Reum unterrichteten Malweise: „Strukturen und Tiefen erahnen und verstärken – dadurch kann das Licht zum Ausdruck kommen“.

Schmitz-Reum spricht von „abstrahierten Transparenzen“, wenn sie mit bewusst herbei geführten Brüchigkeiten für Durchblicke sorgt: Materialrisse, von Hand oder im Verlauf langer Trocknung und Alterung entstanden, durch Gewebeverschleiß oder nur den Farbauftrag. Mal sieht es nach Schrunden und Falten aus, dann, als bräche die eigentliche Gestalt hinter den Schichten hervor oder ruhe hinter gewelltem Glas.

„Meine Bilder sind nicht schön, eher bizarr, fragil, fremdartig. Ich möchte eine Möglichkeit schaffen, den Menschen anders zu sehen, um ihn besser zu verstehen – außerhalb der Norm: verzerrt, verdreht, versteckt. Genau das ist auch mein Ziel in der Abstraktion, dass ich versuche, das Wesen der Form darzustellen – die Essenz, indem ich die Norm wegnehme.“

Manches Bildelement, das von Weitem wie ein breiter Pinselstrich wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als aufgeklebter Gewebefetzen, der völlig ins Bild eingegangen ist. Nicht nur Stoffe, auch Perlmutt-Chips, Schellackplättchen, Blattgold, Eisenspäne, Buchseiten – Gabriele Schmitz-Reum transformiert all das zu neuen Ausdrucksmitteln. „Ich versuche, eine neue Oberfläche zu schaffen, um eine neue Sicht auf den Körper zu bekommen und mir damit seiner eigentlichen Beschaffenheit bewusst zu werden.“

 

In ihrem Frühwerk arbeitete Gabriele Schmitz-Reum ausschließlich mit Grautönen und widmete sich der Zeichnung und Graphik. In der Serie „Körperwelten“ fand sie zeichnerisch Wege, ihre Figuren wie über dem Papier schwebend erscheinen zu lassen. Die netzartige Schraffurtechnik lässt den Eindruck feiner, dunkler über das Papier gespannter Gaze entstehen. Trotz stark kontrastierender Hell-/Dunkelbereiche scheint der weiße Hintergrund des Papiers immer hindurch. Teilbereiche der abgebildeten Gestalt wiederholen sich wie das Echo einer Form. Die abgebildeten Körper treten in fließenden Übergang mit ihrer Umgebung, wirken in sie hinein, werden zur Landschaft.

Das Auflösen der Form, diese teilweise freizugeben, in anderen Bereichen wieder zu verdecken, und hierüber eine große Spannung zu erzeugen, ist das wiederkehrende Moment. Weite Teile des Bildes verbleiben oft in der Andeutung. Später geht Schmitz-Reum dazu über, ihre Bilder mit mehreren durchsichtigen Leinwänden aufzubauen und damit reale Tiefen zu erzeugen. Es sind hauchdünne Seiden und Transparentpapiere, die sie dafür mit Tusche, Stift und Kohle stellenweise bearbeitet und am Ende semidurchsichtig übereinander spannt. Der auf diese Weise dargestellte Torso erscheint und verbirgt sich auf mehreren Ebenen. Stellenweise kann man ihn nur erahnen. „Auch wenn ganz wenig dargestellt wird, ist trotzdem das Ganze vorhanden. Den vollständigen Umriss muss man sich selbst im Geiste zusammensetzen. Es ist Empathie, die da verlangt wird.“

Auf Lücken zielen auch die Schüttbilder, „wo man die über das Bild laufenden Farbspuren verstehen, lenken und malerisch interpretieren muss“. Da werden Schnüre gelegt, an denen die Farbe entlang fließen kann, von denen sie gestoppt oder umgelenkt wird: Ultramarinblau, Schwefelgelb, Moosgrün, leuchtendes Blaulila. Schmitz-Reum nennt sie „starkfarbige Bilder“, bei denen sie anstelle malfertiger Pasten reine Pigmente auf der mehrfach vorgearbeiteten, dann genässten Leinwand in Fluss gebracht hat.

 

Gabriele Schmitz-Reum unterteilt ihre Bilder in Transparenz-, Schwarz-, farbige, Gold- und Weiß-Phase. Eine Zeitlang bereitete sie ihre Bildhintergründe mit Blattgold, Vergolderwachs oder goldener Creme vor, um den transparenten Ölfarben darüber eine besondere Leuchtkraft zu verleihen. An anderen Stellen trägt sie die Farbe anschließend ganz abdeckend auf, sodass vom Gold nichts mehr hindurchscheint. „Das hat man auch im Mittelalter getan: Der Goldgrund repräsentierte das Himmelreich. Für mich ist es das gleißende Vergessen“. In ihrem Bild „Goldmund und der Feuerzwerg“ erkämpfen sich feuriges Rot und versengtes Schwarz die Vorherrschaft in den Zwischenräumen der Goldplättchen.

Im Übergang zur Weiß-Phase entstehen großformatige Gemälde wie „Seht, ein Mensch!“, in denen Gold und Weiß in zahllosen Nuancen und Schattierungen eine Paarung eingehen. Der in Händen gehaltene Kopf ist ein wiederkehrendes Motiv, oft gesichtslos. Nach dem Grund gefragt, antwortet Schmitz-Reum: „Der Gesichtsausdruck würde den Ausdruck des Körpers stören.“ Es fällt auf, dass Köpfe in den Bildern immer körperlos sind und Körper stets kopflos oder mit verborgenem Gesicht dargestellt sind.

„LichtAtmer“ nennt Schmitz-Reum die für eine Installation in der Dortmunder Phönixhalle 2010 geformten Gelatineköpfe, von denen sie mehrere Hundert zu einem Kronleuchter-artigen Ensemble gruppiert. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man die Gesichter in dem Riesenlüster. Der in der Mitte verborgene durch sie hindurchleuchtende Strahler überblendet ihre Physiognomie, lässt nur die Außenränder der wie aus Glas erscheinenden Köpfe erkennen. Das Licht entstellt und verzerrt durch die Solarisation ihre Antlitze – „eine Art von Abstraktion durch Licht“.

Noch im gleichen Jahr präsentierte Gabriele Schmitz-Reum in der Turbinenhalle Bochum „Homunkulus-Labor“, eine gemeinsame Arbeit mit Werner Block, für die sie Glas-Köpfe in halb mit Salzlake gefüllten Phiolen arrangierte. Im Verlauf des Ausstellungszeitraums setzten sich Kristalle ab, überwuchern die in sie eingetauchten Gesichter – eine stetige Verfremdung, die ganz von allein geschah. „Man sah jeden Kopf auf seine eigene Weise alt werden“, erinnert sich Schmitz-Reum.

Die Gelatineköpfe sind mittlerweile durch Feuchtigkeit geschrumpft und zerfallen – ganz im Gegensatz zu den drei gläsernen Brunnen „Zeichner“, „Maler“, „Bildhauer“ mit der Übertitelung „Die Quelle in mir“. Die sinnbildlichen Wassersäulen sprudeln unversiegbar in ihrem Inneren empor. Sie verlieren keinen Tropfen, verdunsten nicht und bleiben hinter der klar umrissenen, zugleich transparenten Form. Ihr Verlauf ist jedoch unberechenbar und auch, wie sich das Licht des Himmels in ihnen bricht. Dem Betrachter eröffnen sich zahllose Winkel, aus denen heraus die Skulptur ihre Wandelbarkeit erkennen lässt – eine Charakteristik für das Gesamtwerk von Gabriele Schmitz-Reum.

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