Interview

„Der technologische Fortschritt prägt unser Selbstbild.“

Interview mit Professor Dr. Gundolf S. Freyermuth, erschienen im Fachmagazin Marketeers+Pioneers im Janur 2007.

 

Herr Freyermuth, Sie haben sich vor ein paar Jahren im Schweizer Kulturmagazin Du als Cyborg geoutet …

Freyermuth: Ja, die haben da eine Enzyklopädie des modernen Wissens veröffentlicht, und ich war unter anderem für das Stichwort Cyborg zuständig. Schließlich bin ich selbst einer.

Merkt man gar nicht!

Freyermuth: Das haben wir Cyborgs so an uns … Mensch und Maschine, Natur und Technik verschmelzen zu einer Einheit. Ich habe ein künstliches Ohr.

Welches?

Freyermuth (zeigt auf das linke): Dieses!

Gruselig!

Freyermuth: Nicht das Ohr hier draußen natürlich! Das Innenohr ist künstlich!

Ach so!

Freyermuth: Tympanoplastik heißt das. Früher krepierte man an solchen Wehwehchen. Oscar Wilde zum Beispiel starb an genau der Krankheit, die ich hatte. Heute überlebt man. Das ist einer der vielen Vorteile der Cyborgisierung – dass man länger lebt, dank Hunderten von mehr oder weniger smarten Ersatzteilen für unsere gebrechlichen Körper. Es gibt sogar erfolgreiche Sportler mit künstlichen Hüften. Die Cyborgs sind unter uns. Die sind längst keine fiktiven Schreckgestalten mehr. Cyborgs sind unsere Nachbarn, Cyborgs sind wir selbst.

Künstliche Körperteile werden zum Trend?

Freyermuth: Schon vor zehn Jahren kam ich in meinem Buch Cyberland auf eine vierseitige Ersatzteil-Liste, vom Herzschrittmacher bis zur künstlichen Retina. Allmählich wird die Wartungstechnik zum zentralen Problem der Medizin, was wir immer mehr brauchen, sind Cyborg-Techniker, ein Berufsfeld, das es so noch nicht gibt.

Cyborgs sind also keine Science Fiction mehr?

Freyermuth: Ursprünglich war das ohnehin keine Science Fiction. Zwei NASA-Forscher – Clynes und Kline – haben 1960 den Begriff geprägt. Cyborg ist die Kurzform für „kybernetischer Organismus“. Kybernetik ist die Lehre von der Maschinensteuerung. Es ging darum, wie der Mensch im Weltraum mit Hilfe technischer Maschinen überleben könnte. Was Clynes und Kline mit „Cyborg“ bezeichneten, war noch nicht das, was die Science Fiction dann draus machte. Gemeint war zunächst schlicht ein intuitives Verschmelzen, bei dem Menschen nicht mehr bewusst eine Maschine bedient, sondern mit ihr funktional eins werden.

Clynes Bild dafür war das Radfahren: Wenn Sie Fahrrad fahren, denken Sie nicht, wie Sie es machen. Wenn Sie darüber nachdächten, würden Sie auf die Fresse fallen. Sie fahren einfach – Sie gehen mit dem Fahrrad eine funktionale Einheit eine, nicht eine biologische, körperliche: Vom Fahrrad können Sie wieder absteigen. Das ist Ihnen ja nicht angenäht.

Es gibt also zwei Arten von Mensch-Maschine-Verschmelzung …

Freyermuth: Richtig. Wir erleben zum einen ein immer stärkeres funktionales Verschmelzen mit Maschinen, ob wir Auto fahren, ein Videospiel spielen, am Laptop arbeiten. Wenn dieser Umgang noch das alte Bedienungsmoment hätte, dass man an eine Maschine herantritt, einen Augenblick überlegt oder in einer Anweisung nachschlägt und dann auf den richtigen Knopf drückt, dann wären wir nicht so effektiv und versiert, wie wir sind. Wo das noch so ist, wo wir industrielle Maschinen einfach bedienen sollen, pflegen die meisten von uns denn auch zu scheitern: Wer kann schon einen dieser bekloppten analogen Videorekorder programmieren? Wohingegen viel komplexere Aufgaben an digitalen Maschinen wie Computern oder Spielekonsolen von den meisten recht mühelos erledigt werden, weil da eben durch bessere, auch personalisierbare, weil Software-basierte Interfaces dieses funktionale Verschmelzen von Mensch und Maschine gelingt.

Trotzdem wurde das Verständnis vom Cyborg als einer physischen Verschmelzung von Mensch und Maschine durch populäre Filme und Romane so dominierend, dass wir für die ursprüngliche Bedeutung von der Cyborgisierung als funktionaler Einheit einen neuen Begriff prägen mussten: Fyborgisierung.

Warum hat sich dieses „eingefleischte“ Verständnis von Cyborg durchgesetzt, wo das doch eher abschreckend ist?

Freyermuth: Gerade deshalb natürlich. Weil sich in der Figur des Cyborgs, der digitalen Menschmaschine, unsere aktuellen, ganz alltäglichen Ängste angesichts der Durchsetzung digitaler Produktions- und Kommunikationsmittel ausdrücken. Der Gedanke, eins mit unseren neuen Maschinen zu werden, scheint schrecklich – aber zugleich auch schön und verlockend. In der Science-Fiction, in unzähligen Spielfilmen verkörpert der Cyborg genau diese unsere Angstlust. Wie früher, für die Menschen der mechanischen Epoche, der unheimliche Automat. Was aber immer schon nicht nur eine Frage der Kunst oder der Philosophie war, sondern ganz praktische Konsequenzen hatte. In der Medizin etwa. Solange Sie das Herz als Sitz der Seele begreifen, des göttlichen Gedankens, der Liebe usw., können Sie es besingen, aber nicht heilen. Erst als man das Herz analog zur damals entstehenden Technik als simple Pumpe verstand, war man in der Lage, es auch zu reparieren. Indem die Menschen so begannen, sich nach dem Vorbild ihrer Maschinen zu begreifen, gewannen sie mehr Kontrolle auch über ihre eigene Existenz.

Das spiegelt sich ja auch in der Sprache wieder, wenn man an Idiome wie „der tickt nicht richtig“ denkt. Auch der Beipass ist ja ursprünglich eine Einrichtung in Heizungsanlagen.

Freyermuth: Ja, die Volksprache hat das sehr schnell in Metaphern begriffen, die von den jeweils neuesten Maschinen abgeleitet waren. Und die Medizin hat aus diesen Einsichten systematische Konsequenzen gezogen. Mit der Industrialisierung wurde der Mensch daher nach dem Vorbild der Dampfmaschinen verstanden und repariert. Auf der Intensivstation etwa, diesem Triumph industrieller Medizin, liegen wir in den Schläuchen als Teil einer fabrikartigen Apparatur. Stoffwechsel, Nahrungsverbrennung, das sind alles industrielle Modelle. Auch die von Freudsche Psychoanalyse beruht auf industriellen Dampfmaschinenmetaphern, siehe Triebstau, Überdruck, Ventil.

Welchem Schreckensbild entsprach dann Frankenstein?

Freyermuth: Der Automat, die automatische Puppe, das waren Schreckgestalten der mechanischen Epoche, in der die Menschen diese Phase der Maschinenwerdung verarbeiteten. Frankenstein wurde dann der erste industrielle Mensch, montiert wie ein industrielles Produkt aus Einzelteilen – Leichenteilen – und belebt durch Elektrizität, Blitzschlag. Die nächste Schreckfigur, die mit der zweiten industriellen Revolution entsteht, mit Taylorisierung, Elektrifizierung, Automatisierung, ist der Roboter. Karel Čapek hat mit seinem Robot-Stück „R.U.R.“ 1921 den Namen dafür geprägt.

Und mit der Digitalisierung entstand dann die Figur des Cyborgs?

Freyermuth: Ja, der erste große Cyborg der Filmgeschichte, Yul Brynner in „Westworld“, 1973, war ein Mischwesen aus Fleisch und Chips. Er hatte einen menschlich wirkenden Körper und ein elektronisches Gehirn, einen Computer im Kopf. Der es ihm ermöglichte, sich gegen seine Schöpfer, die Menschen, denen er dienen sollte, aufzulehnen, sie zu ermorden.

Wobei der berühmteste Cyborg, der Terminator, ja nicht mehr ein Schreckgespenst ist, sondern sympathisch, einer, der sogar fähig wird, menschliche Gefühle zu lernen.

Freyermuth: Ja, die drei Filme der Terminator-Reihe führen uns die Umwertung des Cyborgs vor. Er beginnt wie der Roboter als Figur des Bösen, als Feind der Menschheit, und wird im Laufe der Jahre immer besser. Der Terminator des ersten Films, vergessen wir das nicht, ist noch durch und durch gefährlich. Das Anfang der achtziger Jahre, als die meisten Menschen digitale Technik nur vom Hörensagen kannten und entsprechend fürchteten. Im zweiten Film kommt dann der Terminator, um die Menschheit zu retten, zu verteidigen gegen den neuen, dramatisch verbesserten Terminator. Damit wird die Figur des Cyborgs ambivalent – es gibt nicht mehr nur schlechte, es gibt auch gute Cyborgs. Und die – die richtige Cyborgisierung –, das lehrt uns diese populäre Fiktion, brauchen wir, denn von ihr hängt unser Überleben ab.

Zeigt sich diese Umwertung auch in dem Trend, Körperteile, die eigentlich funktionieren, aus ästhetischen Gründen zu ersetzen, Brüste zum Beispiel?

Freyermuth: Wir stehen ganz sicher an einem Scheidepunkt der Medizin. Die mechanische, die industrielle Medizin war ja immer eine Reparaturmedizin, die nur dann eingriff, wenn etwas kaputt war. Und das war auch gut so, weil der Ersatz eigentlich immer schlechter war als das Original. Das künstliche Holzbein war schlechter als das Bein, das man vorher hatte. Bis heute ist unser eigenes Herz besser als alles, was man uns einpflanzen kann. Selbst künstliche, digital gesteuerte Hände funktionieren nicht so gut wie eine echte Hand.

Der nächste Schritt der digitalen Medizin geht jedoch über Reparatur und Austausch hinaus – mit der Genmanipulation erreichen wir die Stufe einer „natürlichen“ Korrektur und Augmentierung. Und die Kunst ahnt wieder, was da kommt: Der jüngste Schreckensentwurf, der den schrecklichschönen Cyborgs zur Seite tritt, ist der Klon – das genetisch manipulierte und daher wiederum künstliche Leben.

Der kopierte Mensch …

Freyermuth: Genau, aber nicht nur einfach kopiert. Wir haben im vergangenen halben Jahrhundert erkannt, dass die Essenz unseres Seins nicht der ersetzbare Körper ist, das Physische, die Hardware –sondern die Software, unser genetischer Code. Und diese Erkenntnis führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu, dass wir nun daran gehen wollen, diesen Code umzukodieren, zu verbessern.

Aber das funktioniert doch noch nicht … 

Freyermuth: Im Hinblick auf die Basisinnovationen haben wir die Voraussetzungen für die Reprogrammierung des genetischen Codes geschaffen. Dass es in der Praxis noch nicht perfekt funktioniert, ist kein prinzipielles Argument dagegen. Vom heutigen Stand aus betrachtet, ist die Umschreibung möglich und damit nurmehr eine Frage der Zeit.

Es könnte also möglich werden, dass mir ein neuer Zahn wächst?

Freyermuth: Ja, wenn Sie zum Beispiel solche Kaninchenzähne haben wie ich: Die hätte ich mir natürlich ziehen lassen können, aber ich bin doch nicht so blöd und mach mir da ein Gebiss rein. Aber wenn ich mir ein komplett neues und besseres Set wachsen lassen könnte …

Wir sind ja schon dicht dran, Seh- und Hörnerven wieder zu aktivieren, so dass man wieder normal hört. Aber wenn das geht, warum dann nur normal hören? Dann möchte ich besser hören als andere Leute. Und ein anderer möchte vielleicht Radaraugen! Mit genetischer Manipulation wird die Grenze überschritten von einer reinen Reparatur- zu einer Verschönerungs- und Verbesserungsmedizin. Die Anfänge können wir bereits in dem wachsenden sozialen Bedürfnis nach Schönheitsoperationen erkennen. Das ist die medizinische Wachstumsbranche. In diesem Bedürfnis kann man deutlich sehen, wie sehr die Menschen in den entwickeltsten Regionen dieser Welt schon vom Umgang mit digitaler Technologie geprägt sind, wie sehr sie sich als Software begreifen. Ich gucke in den Spiegel und sage: So sehe ich mich nicht, wie ich da aussehe. Ich sehe mich eigentlich mit einer schöneren Nase, und schwupp, bestell ich mir die neue Nase. Das machen Hunderttausende von Menschen unter großen Schmerzen! Wenn das erst einmal schmerzlos möglich sein wird, wer wird dann sich nicht ein wenig verbessern wollen?!

Sie meinen, wir empfinden unseren gottgegebenen Körper zunehmend als manipulierbare Datei?

Freyermuth: Ja. Darin drückt sich eine neue Form der Selbsterkenntnis aus, die produktiv weiterwirkt, sowohl auf die Erkenntnis, was wir sind als auch auf die Entwicklung der jeweiligen Technologie. Alle Maschinen sind nach unserem Bilde gemacht, so wie unser Selbstbild von ihnen beeinflusst wird. Unser Menschenbild entwickelt sich in direkter Wechselwirkung mit dem technologischen Fortschritt, nicht als Widerspiegelung oder Konsequenz.

Bevor Leute Maschinen entwickelten, muss das mechanische Konzept schon in ihren Köpfen gewesen sein.

Freyermuth: Wir sind von Anfang an Wesen gewesen, die mit Werkzeug umgehen. Jede Form menschlicher Kultur basierte auf Techniken – die wir bis heute immer weiter externalisieren und damit verselbständigen. Sprache ist eine der frühen Kulturtechniken. Aber indem ich Ihnen hier aufs Tonband spreche, erhöhe ich die Reichweite meiner Worte dramatisch, weil Sie das Tonband wegtragen und sich diese Aufzeichnung zu Hause noch mal anhören können, morgen oder auch in 10 Jahren – Gott behüte. Mit Hilfe dieses Mediums externalisiere ich also meine Gedanken und rette sie über Raum und Zeit.

Die Digitalisierung hat das dann noch mal extrem erweitert …

Freyermuth: Ja, aber das Entscheidende der Digitalisierung besteht nicht in der besseren Hardware, sondern in dem Entstehen von etwas ganz Neuem, nämlich Software: von Programmen und Dateien, Virtualisierungen also der Werkzeuge wie der verschiedenen Speichermedien für Texte, Töne, Bilder. Als Software werden die Werkzeuge leistungsfähiger und die Speichermedien elastischer – mit einem Schreibprogramm kann ich halt Texte endlos und automatisiert manipulieren, wie ich es mit einer Schreibmaschine und Papier nie konnte. Obendrein kann ich das Schreibgerät selbst endlos upgraden, Version 1.0, 2.0, 3.0 usf. Alles lässt sich im Softwaremedium unentwegt umarbeiten und verbessern. Aus dieser historisch neuen Erfahrung speist sich das neue, das genetische Menschenbild.

Der virtualisierte Mensch?

Freyermuth: Ja, wir wissen nun, dass wir, unsere Körper nur Träger eines Codes sind, der vor uns in anderen Menschen war und nach uns in anderen Menschen sein wird. Wir sind nur ein temporäres Speichermedium, nur eine Version des Codes.

Unromantisch.

Freyermuth: Vielleicht. Auf jeden Fall aber unzulänglich! Wir könnten und sollten das – also: uns – verbessern.

Unsere Identität beinhaltet doch auch, was wir im Laufe unseres Lebens im Gehirn abspeichern – was verloren geht, wenn wir sterben.

Freyermuth: Und das ist eine Schande! Daher zeugen Menschen Kinder und erziehen sie, weil die Kinder sie überleben und dadurch, dass sie sie erzogen haben, sozusagen bestimmte Elemente ihrer Software – hoffentlich! – weitergegeben. Aus der Einsicht in diesen Verlust an Wissen und Erfahrung aber, den jeder Tod bedeutet, kommt auch die fantastische Idee bei Moravec wie Minsky, Unsterblichkeit zu erlangen, indem wir unsere Gehirninhalte nanotechnisch auslesen und auf andere Speichermedien sichern. Denn wenn das, was unsere Identität ausmacht, etwas ist, das Software-artig gespeichert ist in unserem Gehirn, dann sollten wir doch in der Lage sein, uns umzuspeichern, auf ein anderes Medium und uns in die Datennetze hochzuladen, um als ätherische Software-Wesen den Planeten zu umkreisen. Das sind alles Ideen – ob man sie nun für absurd hält oder für irgendwann einmal möglich –, die sich in ihrer Genese deutlich erklären lassen: aus der epochalen Erfahrung der Trennung von Hard- und Software. Wieder einmal, wie in der mechanischen und wie in der industriellen Epoche, begreifen wir uns selbst nach dem Muster unserer fortgeschrittensten Techniken.

Das hat auch was Gnostisches …

Freyermuth: Sicher. Mit der Veränderung der Welt durch die digitale Technologie stellt sich die Sinnfrage radikal neu. Und das führt zu intellektuellen und spirituellen Verwerfungen. Deswegen hatten wir in der frühen Neuzeit Hexenverbrennungen, die Inquisition, die großen Glaubenskämpfe. Dasselbe erleben wir jetzt. Wir erleben die Krise des Materiellen, des Originären, der Authentizität und damit der Identitäten. Solche Zeiten radikalen Wandel des Menschenbildes sind immer auch Phasen, in denen einerseits Regression angesagt ist, aggressiver Fundamentalismus, in denen aber andererseits auch die Hoffnungen erstarken und die wildesten Utopien wieder blühen.

 

Zur Person:

Dr. Gundolf S. Freyermuth ist Professor für “Media and Game Studies” am Cologne Game Lab der Technischen Hochschule Köln. Von 2004 bis 2014 lehrte er Angewandte Medienwissenschaft an der Internationalen Filmschule Köln. Seitdem unterrichtet er dort als Associate Professor “Comparative Media Studies”. Freyermuth ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane und arbeitete als Redakteur für das Kulturmagazin TransAtlantik, als Reporter beim stern, als Chefreporter bei Tempo. 1993 zog der Deutschamerikaner auf eine Ranch in Arizona. Seit 2004 lebt er mit Frau und Kindern wieder in Berlin.